Früher war bekanntlich alles besser. Oder doch nicht? Eine Rasierklinge, ein Griff dran, und gut wars. Und heute? Willkommen im Rasierklingen Zeitalter “Mach 6”.
OK, der erste Rasierer mit Doppelklingen war ja noch irgendwie innovativ. Dann betrat der Turbo-Megaschneider mit sagenhaften drei Rasierklingen die Bühne. Er löste das Problem, dass sich widerständige Barthärchen nach den ersten zwei Klingen nicht kampflos ergeben hatten. Seitdem scheint es, was die Anzahl der Rasiermesser angeht, nach oben keine Grenzen mehr zu geben.
Ist das „Mehr“ auch „Besser“?
Seit Urgroßvater den Pinsel in der Rasierseife auf und ab schwang und sich anschließend bis an die Ohren einschäumte, sind Männer gut rasiert. Na gut: Heute sind sie besser rasiert. Doch warum hat ausgerechnet heute, wo wir die modernsten Turborasierer im Schrank haben, jeder zweite Mann einen Drei-Tage-Bart oder einen veritablen Rauschebart? Oder ist das nur die Vorstufe zum nächsten Hobel mit – sagen wir – zehn Rasierklingen? Geht es bei der Konstruktion von Rasierapparaten eigentlich noch um die elementare Steigerung von Gründlichkeit oder ist es Technologieversessenheit, die außer Kontrolle geraten ist? Brauchen wir vielleicht demnächst einen Rasierer, der auch telefonieren und fotografieren kann? Die Industrie ist stets bestrebt, uns Verbesserungen anzubieten. Andererseits möchte sie aber die Konkurrenz durch innovative Ideen ausstechen.
Klingenwahn als Verkaufsmodell?
Die Zeiten der billigen Plastik-Einwegschaber sind aus Sicht von Umweltschützern definitiv vorbei. Heute sollten wir die Müllberge lieber mit metallenen Klingen anreichern, die einem Rasiermesser mit Wechselklingen oder einem der Turbo-Rasierer neuster Generation entnommen werden. Metall können wir immerhin wieder verwerten. Die Einwegschaber hinterlassen hingegen Plastikmüll. Sie enden als Mikroplastik in irgendeinem Fischmagen – und was wird aus den in ihnen enthaltenen Klingen? Schwimmende Fischfilets? Man mag es sich kaum vorstellen. In welcher Weise werden Gillette und Wilkinson mit ihren zukünftigen Scherkopfpatenten das Ökosystem verändern?
Sechs Klingen hintereinander sagen jedem widerborstigen Barthaar den Kampf an. Mit technischen Raffinessen wie einem Konturenschneider, einem Hautstraffer, Gummilamellen oder Gleitstreifen punkten sich die Nassrasierer bis zur totalen Rasur-Ekstase. Wir dürfen gespannt sein, was die Weltraumforschung der Zukunft noch zum Wettbewerb um das Bartscheren beitragen kann. Dass Scherköpfe auf Knopfdruck vibrieren können, ist ja keine Kunst. Kunst wäre es hingegen, wenn ein Rasierhobel erfunden würde, der geräuschlos und ferngesteuert nanofeine Maori-Muster in den Bart schneidet oder als gut getarnter Vibrator auch für Lustgewinne anderer Art genutzt werden kann.
Die Wahrheit entblößt sich unter dem Mikroskop
Eine Blondine würde vermutlich alle Männer, die gut rasiert sind, als gut rasiert ansehen. Einer rasurtechnisch ahnungslosen Dame ist es herzlich egal, mit wie vielen Klingen sich ihr Göttergatte an die Gurgel geht. Doch einem leistungsfähigen Mikroskop ist es nicht egal. Hier trennt sich unter der alles erkennenden Linse die Spreu vom Weizen. Turborasierer mit mehreren Klingen hinterlassen deutlich weniger Stoppeln als andere Rasiermesser. Da man hier die Haut nicht mehrfach mit der Klinge belästigen muss, wird sie weniger stark strapaziert. Trotzdem hängt der Rasur-Erfolg eher nicht an der Zahl der Klingen am Rasierer, sondern eher an deren Position, am Abstand der Klingen zueinander und am Winkel, mit dem man den Kinnrasen mäht. Und auch an der Schärfe der Rasierklingen. Andererseits: Es gibt tatsächlich noch altbackene Mehrfachklingen-Rasierer, die die Haut übermäßig strapazieren. Sagt die Stiftung Warentest. Es geht eben nichts über erhöhten Rasierkomfort. Auch deswegen sind die heutigen Systemrasierer ergonomische Wunder, die einen sanften Handschmeichler-Effekt mit Vibrations-Orgasmus versprechen.
Rasieren als Erlebnis
Ein Mann möchte sich nicht mehr nur rasieren, sondern dabei einen Wellness- und Anti-Aging Effekt erleben. Die Event-Rasur ist – so hört man aus informierten Kreisen – stark im Kommen. Morgen schon kommen vielleicht Hyaluron-Rasierer mit neun schwenkbaren Doppelklingen für die nanofeine Rasur auf den Markt. So oder so profitiert die Industrie davon, dass selbst die jungen Männer auf dem Kopf Haare verlieren, aber in den Arealen darunter teils starken Haarwuchs präsentieren. Mancher Mann schert sich aus reiner Lust am Rasieren die Brust oder den Rücken. Auch Schamhaar kommt heute oft unters Messer. Was dem einen sein Retro-Rasiermesser, ist dem anderen sein innovativer Systemrasierer mit Flexball. Man wartet förmlich darauf, dass auch das Rasieren endlich als olympischer Sport anerkannt wird.
Ist die gute alte Hobelrasur wirklich out?
Nein. Nicht das Ergebnis spielt eine Rolle, sondern der Weg, der zum Ziel führt. Diese altbekannte taoistische Weisheit hat wahrscheinlich zum Wiedererstarken der Barbershops geführt. Der Mann von Welt lässt lieber andere an die Klinge. Er weiß seine Rasur in der Hand eines wahren Bartdekorateurs. Im Barbershop wird noch von Hand gemäht, geglättet, konturiert, gebürstet und eingefettet. Übrigens findet sich kein einziges technisch hochgerüstetes Produkt der Wilkinsons und Gillettes in der Hand dieser Rasur-Maestros. Total Retro also. Was nicht schlecht ist. Im Gegenteil: Die Hobelrasur im Barbershop gilt als beste Handwerkstradition. Sie lässt alle industriellen Interessen, die Eindruck bei potenziellen Käufern schinden sollen, über die Klinge springen. Der Begriff “Mehrfachklingenrasierer” hätte sich einst gut als Ratewort im Galgen-Spiel gemacht. Doch wer spielt das heute schon noch.
Vielleicht liegt die Antwort auf die Frage, wie viele Klingen ein Rasierer von Weltformat benötigt, im Firmengründer King C. Gillette. Dieser Mann, der tatsächlich so hieß, sagte einmal: “Wir hören dann mit der Herstellung von Rasier-Klingen auf, wenn wir sie nicht mehr weiter verbessern können.” Bekanntlich gab es erst die Einfachrasierklinge und dann die beidseitig nutzbare Klinge. Da das aus naheliegenden Gründen nicht zu toppen war, ließ man den Grundsatz des Firmengründers bei der “Gillette Safety Razor Company” fallen. Stattdessen besannen die Vorstandsvorsitzenden sich wohl auf das Verkaufsmotto “Viel hilft viel”.
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